In diesem Fall haben die Autoren fast 100 Dokumente der vergangenen zehn Jahre analysiert und eingeordnet: Berichte von Jugendamt und Verfahrensbeistandschaft, Anwaltsschriftsätze sowie gerichtliche Sitzungsprotokolle, Beschlüsse und Beweisfragen sowie ein entscheidungserhebliches Sachverständigen-Gutachten.
Zu betonen ist, dass die von den Autoren nachfolgend gestellten Fragen immer zu dem Zeitpunkt gestellt wurden, wo man nach Aktenlage stets auf inhaltlicher Augenhöhe mit dem kindschaftsrechtlichen System war. Und ausdrücklich nicht erst nach Bearbeitung aller Akten.
Die Fragen zeigen zahlreiche Defizite des kindschaftsrechtlichen Systems auf, bei denen das Familiengericht als finale Instanz eine besonders unrühmliche Hauptrolle übernimmt:
Warum dauert es sieben Monate bis zur Terminierung, dazu vier Monate seit dem Jugendamtsbericht? Eine Zeit, in der ein konfliktbehaftetes Familiensystem sich selbst überlassen ist zu Lasten des betroffenen Kindes?
Die Umgangs-Elternperson fordert die paritätische Betreuung im Wechselmodell ein. Die hauptbetreuende Elternperson verweist auf gesundheitliche Probleme des Kindes und fordert Einschränkungen des Umgangs.
Das Jugendamt spricht sich aufgrund der zunehmenden Belastung des Kindes im Bericht an das Familiengericht für eine therapeutische Behandlung des Kindes aus und gibt diese Empfehlung auch an die Eltern.
Warum haben weder Jugendamt noch das Familiengericht (von Amts wegen) ein Verfahren nach § 157 FamFG auf Ansetzung eines Erörterungstermins zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung eingeleitet? Warum hat man stattdessen die Eltern in der zunehmend kritischeren Entwicklung, in dieser Kombination aus Frustration, Unsicherheit und Konfliktverschärfung gelassen, anstatt die Vorgaben deutlich auszuweiten?
Warum hat man das Kind weiter dieser destruktiven Dynamik ausgesetzt?
Ist es nicht leider zum jetzigen Zeitpunkt notwendig, beide Eltern auf Erziehungsfähigkeit und Bindungstoleranz zu begutachten?
Erst jetzt bringt die Anwaltschaft der Umgangs-Elternperson den Bericht der kinderpsychiatrischen Einrichtung ins Verfahren ein, womit sich der gesamte Verlauf theoretisch verändern sollte. Das bleibt vollständig aus. Weder Gericht noch neu bestellte Verfahrensbeistandschaft noch das Jugendamt nehmen den Verdacht der kinderpsychiatrischen Einrichtung in irgendeiner Weise auf. Stattdessen dauert es nach der Aktenkundigkeit des „Münchhausen-by-Proxy“-Verdachts über einen weiteren Monat bis zu einem Gerichtstermin. Dieser Termin folgt also damit erst rund vier Monate nach Antragstellung.
Frage:
Warum nehmen Familiengericht, Jugendamt oder Verfahrensbeistandschaft trotz Aktenkunde diesen Verdacht „Münchhausen by Proxy“ nicht auf?
Zeitlich sehr knapp vor dem angesetzten Gerichtstermin stellt die Umgangs-Elternperson einen Antrag auf Übertragung der Gesundheitssorge, erneut und dieses Mal deutlicher mit Verweis auf den Verdacht „Münchhausen by Proxy“, der von der kinderpsychiatrischen Einrichtung geäußert wurde.
Im Gerichtstermin selbst wird die Beauftragung eines Sachverständigen-Gutachtens beschlossen. Zwar nimmt laut Sitzungsprotokoll das Jugendamt einen Hinweis der Verfahrensbeistandschaft der Parentifizierung auf, doch an keiner Stelle des Sitzungsprotokolls wird Bezug auf den Verdacht „Münchhausen by Proxy“ der kinderpsychiatrischen Einrichtung auf, obwohl dieser Bericht seit vielen Wochen allen Verfahrensbeteiligten vorliegt.
Frage:
Warum wird hier – insbesondere durch das Familiengericht – einem schwerwiegenden Verdacht, der eine erhebliche Kindeswohlgefährdung zur Folge hätte, nicht explizit und professionell nachgegangen? Warum wird es im Gegenteil überhaupt gar nicht thematisiert?
Stattdessen sorgen die Beweisfragen des Gerichtes für weitere Fragen:
Dieses Sachverständigen-Gutachten ist von vornherein kaum tauglich, KÖNNTE von einer guten Anwaltschaft erwartungsgemäß völlig auseinandergenommen werden. Zugleich wird dieser Erhebungsbericht insgesamt belegen, warum die Anwälte keinen Mut dazu haben oder nicht ausreichend qualifiziert sind und warum im Familiengericht solche Versuche kaum bis gar nicht erfolgreich sein dürften. Zumindest ist uns kein Fall bekannt, in dem das erfolgreich war.
Nach erneut vielen Monaten, der ganze Konflikt geht nun schon sechs Jahre, liegt das Gutachten vor.
Frage: Wird hier nach den perfekten Eltern gesucht? Und wer definiert, was perfekte Eltern sind?
Dabei kritisiert die Sachverständigen-Person die Fragestellungen des Gerichtes deutlich und versucht über Umwege zu antworten, um sich nicht selbst angreifbar zu machen. Woran liegt es, dass ein Familiengericht untaugliche oder gar widerrechtliche Beweisfragen stellt?
Frage: Warum wurde ohne jede Not und ohne Erwägung niedrigschwelligerer Eingriffe in die Elternrechte mit einseitiger Präferenz eingegriffen?
Warum wurde die Zwei-Klassen-Elternschaft einfach umgedreht, obwohl es klügere Lösungen gegeben hätte?
Aus den weiterführenden Akten ist eine erwartbare Entwicklung erkennbar:
Im Sitzungsprotokoll wird deutlich, dass die bisherige hauptbetreuende Elternperson versucht zu retten, was zu retten ist. Die Verfahrensbeistandschaft hat nun eine deutlich ablehnende Haltung dieser Elternperson gegenüber, wogegen das Jugendamt mit einem Vertretungspersonal erscheint, dass in den Vorgang gar nicht involviert ist. Die Tendenz ist aus dem Protokoll erkennbar:
Es wird weiter in gute und schlechte Eltern unterteilt, wobei die Gewinner- und Verlierer-Elternperson nun die Geschlechter geändert haben.
Eine paritätische Betreuung im Sinne des Wechselmodells (verbunden mit klaren und ordnungsgeldbewehrten) Vorgaben für die Eltern kommt für niemanden im kindschaftsrechtlichen System in Betracht.
Folgerichtig ergehen zeitnah die Beschlüsse. Die bisherige Umgangs-Elternperson bekommt das Aufenthaltsbestimmungsrecht.
Begründet wird dies unter anderem mit dem nicht gutachterlich geprüften und auch nicht diagnostizierten Verdacht auf „Münchhausen by Proxy“.
Dazu müssen außerdem folgende Fragen gestellt werden:
In den Folgemonaten gibt es Anzeichen für eine Fortsetzung des Konfliktes, dieses Mal auch mit ersten Hinweisen auf Umgangsbehinderungen durch die nun neue hauptbetreuende Elternperson.
Parallel dazu hat die nun neue Umgangs-Elternperson Beschwerde beim Oberlandesgericht eingereicht. Kritisiert wird unter anderem die fehlende Anhörung des Kindes und nahestehender Personen, die unzureichende lückenlose Definition von Umgang und auch eine unzureichende Informationsweitergabe der nun hauptbetreuenden Elternperson. Im Laufe des Verfahrens werden die Verfahrensbeistandschaft (die sich nach Aktenlage offensichtlich nur auf Telefonate mit der Umgangs-Elternperson beschränkt) und das Jugendamt (was keine „fachliche Empfehlung“ abgibt) eingebunden. Das OLG begründet nur nach Aktenlage, daraus resultierend zwar nachvollziehbar und umfangreich. Das OLG übernimmt also im Wesentlichen die Fehler, die in erster Instanz gemacht wurden. Auch für das Beschwerdeverfahren gehen weitere mehr als fünf Monate ins Land.
Zum heutigen Zeitpunkt hat das Kind den Kontakt zur damals hauptbetreuenden Elternperson nunmehr seit einem Jahr vollständig abgebrochen, hatte sich aber noch zwei Jahre vorher unter Polizeieinsatz geweigert, zur „neuen“ hauptbetreuenden Elternperson zurückzukehren. Die schulischen Leistungen haben weiter nachgelassen, das kindschaftsrechtliche Helfersystem hat zwar die Akten für sich schließen können, hat dabei jedoch einem betroffenen Kind nicht geholfen, sondern im Gegenteil lebenslang geschadet.
Eine seriöse Diagnose „Münchhausen by Proxy“ hat es nie gegeben.
Von gerichtlichem Antrag bis Gerichtstermin brauchte das Gericht einmal 7 Monate, einmal mehr als vier Monate.
Nach Vorlage des Gutachtens hat sich das Gericht fünf Monate Zeit gelassen; das OLG hat sich fast sechs Monate Zeit gelassen. Diese schleppende Verfahrensführung kann, wie aus der Dokumentation ersichtlich, nicht mit Gründlichkeit, Qualität oder Professionalität erklärt werden.
Ebenso ist zu keiner Zeit erkennbar gewesen, dass das kindschaftsrechtliche System – allen vorweg das Familiengericht – ernsthaft an elterlichem Einvernehmen, der gewissenhaften Ermittlung entscheidungserheblicher Tatsachen, einer in jeder Lage des Verfahrens beschleunigten Verfahrensführung oder dem Erhalt beider Eltern für das Kind gearbeitet hat.
Ergebnis:
Das Kind ist nun „Halbwaise“, lehnt die Hälfte seiner selbst ab, hatte zu keiner Zeit die Chance, unbelastet beide Eltern lieben zu dürfen.
Wenngleich die Eltern primär die Verantwortung tragen, hat das System erst die eine und dann die andere Elternperson favorisiert. Seriöse Diagnosen und sanktionierbare, interpretationsfreie und lückenlose Vorgaben gab es nicht. Es gab nur Gewinner- und Verlierer-Eltern, erschreckende Verschlepperei und einen ausgeprägten Dilettantismus im kindschaftsrechtlichen System.