Statistische Auswertung der analysierten Fälle

1. Vorbereitung der Erhebung

Vom 24. Dezember 2022 an haben wir insgesamt 8 Anzeigen in der Stadtausgabe der Braunschweiger Zeitung sowie im Anzeigenblatt „neue braunschweiger“ geschaltet. Aus diesen 8 Anzeigen resultierten insgesamt 32 Anfragen. Vier Anfragen mussten abgelehnt werden, da die Ver-           fahren erstinstanzlich bei benachbarten Amtsgerichten (Wolfsburg, Salzgitter, Goslar, Wolfenbüttel) verortet waren. Weitere 14 Betroffene haben die erforderlichen Daten nicht zur Verfügung gestellt. Ein weiterer Fall wurde von der Erhebung ausgeklammert, da es sich um ein laufendes Verfahren handelt, das derart prägnant ist, dass jegliche Paraphrisierung noch immer Identifizierung zuließe. Zwar wurde der Fall von den Initiatoren der Erhebung erfasst und bearbeitet, jedoch nicht in den finalen Erhebungsbericht aufgenommen. Insgesamt wurden 13 Fälle intensiv erfasst und analysiert.

 

Diese Response-Quote ist, gemessen an der Brisanz und potenzieller Folgen für die Betroffenen, sowie den hohen Teilnahme-Hürden, beachtlich!

 

2. Teilnehmende in dieser Erhebung

Insgesamt wurden 1.147 Dateien mit insgesamt 3.508 Seiten über mehr als 600 Stunden erfasst. Darüber hinaus gab es zahlreiche Gespräche mit Betroffenen, Rückfragen, Gespräche und immer wieder Aktualisierungsbedarf der Elternpersonen in Bezug auf ihre laufenden Verfahren.

 

Aus dem kindschaftsrechtlichen System erfasst wurden:

  • 10 Richterpersonen am Amtsgericht / Familiengericht Braunschweig
  • 4 Richterpersonen am Oberlandesgericht Braunschweig.
  • 22 Anwältinnen und 9 Anwälte
  • Beteiligt waren weiterhin 8 Verfahrensbeiständinnen und 2 Verfahrensbeistände, von denen insgesamt 7 Personen als Fachanwälte für Familienrecht aktiv sind und weitere 3 Personen einen sozialpädagogischen Hintergrund haben.
  • 18 Mitarbeiterinnen und 2 Mitarbeiter des Jugendamtes

 

Die betroffenen Elternpersonen der erfassten 13 Fälle waren:

  • 7 Mütter
  • 6 Väter

Überrascht wurden die Autoren, dass die Zahl der betroffenen Mütter und Väter schon während des Akteneingangs auf gleichem Niveau geblieben ist.

 

Die betroffenen Kinder der erfassten Fälle waren:

 

24 Kinder (Alter zu Beginn der Verfahren)

  • 5 Kinder zwischen 0 und 3 Jahren (21%)
  • 5 Kinder zwischen 4 und 7 Jahren (21%)
  • 13 Kinder zwischen 8 und 13 Jahren (54%)
  • 1 Kind zwischen 14 und 17 Jahren (4%)

 

12 Kinder mit Kontaktabbrüchen (50% der insgesamt erfassten Kinder)

  • 6 Kinder mit temporärem Kontaktabbruch
  • 6 Kinder mit vollständigem Kontaktabbruch
  • 3 von Kontaktabbruch betroffene Mütter
  • 4 von Kontaktabbruch betroffene Väter

 

Zwei Verfahrensbeiständinnen waren an Verfahren beteiligt, in denen 11 der 12 Kinder entweder vollständigen Kontaktabbruch erlitten oder zumindest temporär von Kontaktabbruch betroffen waren.

 

Ein Familienrichter (m) war an Verfahren beteiligt, in denen 4 Kinder temporären Kontaktabbruch erlitten, 2 Kinder vollständig von Kontaktabbruch betroffen sind.

 

Ein weiterer Familienrichter (m) hat bei 2 Kindern einen Kontaktabbruch wieder rückgängig machen können.

 

3. Beschleunigte Verfahrensführung nach § 155 FamFG

Verfahren nach § 155 FamFG sind gemäß Absatz 1 „vorrangig und beschleunigt durchzuführen“.

 

Unter Absatz 2, Satz 2 heißt es weiter: „Der Termin soll spätestens einen Monat nach Beginn des Verfahrens stattfinden“.

 

Das OLG Koblenz führte in einem Beschluss sehr deutlich aus, dass die Familiengerichte in allen Lagen kindschaftsrechtlicher Verfahren für eine „straffe Verfahrensführung“ zu sorgen haben (Beschluss vom OLG Koblenz, 4. Senat für Familiensachen vom 03.08.2021, AZ 7 WF 535/21).

Dabei hat das OLG Koblenz sich auch deutlich zu Fristen von Stellungnahmen, Erstellung oder Beauftragung von Sachverständigen-Gutachten geäußert und ebenso die besondere Bedeutung alsbaldiger Regelungen in Bezug auf die Bindungen des Kindes an seine Elternteile betont.

 

Stellvertretend führen wir drei Etappen auf, in denen weder das Amtsgericht / Familiengericht Braunschweig noch das Oberlandesgericht Braunschweig den Vorgaben straffer Verfahrensführung auch nur annähernd gerecht werden. Im Gegenteil sind Verweise gegenüber den Gerichten auf den Beschluss des OLG Koblenz in aktenkundigen Schriftsätzen, Beschleunigungsrügen und sogar Beschleunigungsbeschwerden ignoriert worden.

 

Beispiel: Dauer von Antragstellung bis Termin (FamFG § 155 (2))

  • Binnen eines Monats:  8,3 %
  • Im zweiten Monat:  37,5 %
  • Im dritten Monat: 12,5 %
  • Im vierten Monat oder später: 41,7 %

 

Verschleppungs-Quote schon zu Beginn:

54,2%

 


Beispiel: Terminierung nach Vorlage eines Gutachtens

  • Binnen eines Monats:  0%
  • Im zweiten Monat:  0%
  • Im dritten Monat:  33%
  • Im vierten Monat oder später: 67%

 

 

Verschleppungs-Quote:

100%

 


Beispiel: Dauer der Erstellung von Sachverständigen-Gutachten

  • Bis zu 6 Monate:  50%
  • Bis zu 12 Monate:  25%
  • Länger als 12 Monate: 25%

 

Verschleppungs-Quote:

50%

 


4. Gerichtliche Orientierung an FamFG oder BGB

Betroffene Eltern müssen sich nicht allein auf die geltenden Gesetze der Bundesrepublik Deutschland verlassen dürfen. Vielmehr möchten sie sich auch darauf verlassen können und wollen, dass das Familiengericht aktiv die Einhaltung bestehender Gesetze (und Fristen) im Blick hat. Wo das nicht der Fall ist, würde man sich wünschen, den notwendigen Rechtsschutz auch gegenüber den Gerichten durchsetzen zu können.

 

Nicht selten raten Anwälte davon sogar ab, um

  • ihren Mandantschaften Nachteile in kindschaftsrechtlichen Verfahren zu ersparen
  • sich selbst vor Nachteilen in der zukünftigen Arbeit mit Gerichten zu schützen oder
  • durch (Beschleunigungs-) Rügen oder Beschwerden kindschaftsrechtliche Verfahren in die Länge zu ziehen.

 

Im Ergebnis sind in fast allen Akten der vorliegenden Fälle enorme gerichtliche Versäumnisse festzustellen, die aus vorgenannten Gründen fast immer von Anwaltschaften nur sehr zurückhaltend thematisiert werden.

 

Der Macht der Familiengerichte steht so die Ohnmacht betroffener Eltern und Kinder gegenüber.

 

Nachfolgend einige Beispiele, wo das Familiengericht kaum bis gar nicht mit Blick auf die geltenden Paragraphen in BGB oder FamFG agiert hat:

 

§ 1684 (3) Satz 2 BGB: „Anordnung zur Erfüllung der Loyalitätspflicht“ fand nicht statt    

69%


§ 155 FamFG: „Beschleunigte Verfahrensführung“ fand nicht statt

69%


§ 1684 (2) BGB, sog. „Loyalitäts- und Wohlverhaltenspflicht der Eltern“ wurde außer Acht gelassen

62%


§ 156 FamFG: „Gerichtliches Hinwirken auf elterliches Einvernehmen“ fand nicht statt

62%


Identifikation destruktiven Elternverhaltens (z.B. Verweigerung von Beratung) fand nicht statt

46%


Beschleunigte Intervention, wenn bereits Kontaktabbruch vorliegt, fand nicht statt             

46%


§ 26 FamFG: „Ermittlung entscheidungserheblicher Tatsachen“ fand nicht statt     

46%


§ 1627 BGB: „Pflicht der Eltern zur Einigung“ fand nicht statt      

38%


Ausformulierung vollstreckbarer Inhalte in Beschlüssen fand nicht statt

38%


Tatsächliche Vollstreckung von Ordnungsgeldern bei Zuwiderhandlung fand nicht statt

38%


§ 1686 BGB: „Informationspflichten gegenüber anderer Elternperson“ wurden nicht beachtet

31%


Klare Identifikation von Umgangsbehinderungen, Umgangsboykotten fand nicht statt   

31%


Anordnung von Interaktionsbeobachtungen als Schutz vor Kontaktabbruch fand nicht statt        

31%


Konsequenzen bei Falschbeschuldigungen (Gewalt, Missbrauch) blieben aus

31%


Umgangspflegschaften bei wiederholten Umgangsboykotten gab es nicht

23%


§ 1626 (3) BGB, sinngemäß: zum Kindeswohl gehören Eltern, Großeltern, etc. wurde nicht beachtet

23%


Hinweis:

Zur Ausformulierung vollstreckbarer Inhalte in Beschlüssen hat sich zuletzt erneut das  OLG Karlsruhe (Entscheidung AZ 5 WF 29/23) klar geäußert. So ist beispielsweise sogar der Satz „von Freitag nach der Schule“ zu ungenau. Umgangsregelungen müssen so konkret sein, dass den Beteiligten ausreichend klar werde, welche Pflichten sie zu erfüllen hätten. Dafür sei auch eine ganz genaue und ausführliche Bestimmung über Art, Ort und konkrete Uhrzeit des Umgangs notwendig.

 

In nur einem einzigen der durch uns untersuchten Fälle konnten wir feststellen und dokumentieren, dass tatsächlich interpretationsfreie Vorgaben gemacht wurden. Diese haben dann über mehrere Jahre funktioniert. Sorgfalt und Klarheit spart den Gerichten also auch Arbeit.

 

5. Aktenkundige Erkennung von Therapiebedarf bei den betroffenen Kindern

Vorweg:

 

Eine Therapiebedürftigkeit der betroffenen Kinder haben wir nur dann dokumentiert, wenn diese Therapiebedürftigkeit durch Gerichte oder Helfersystem aufgeführt wurde und einen Zusammenhang mit dem Trennungskonflikt der Eltern hatten. Zu betonen ist auch, dass in fast allen Fällen eine solche Therapiebedürftigkeit erst nach vielen Monaten erwähnt wurde.

 

Wir formulieren deshalb die These, dass die unter Punkt 4 aufgeführten Versäumnisse von Gericht und Helfersystem erhebliche Spuren auch bei den betroffenen Kindern hinterlassen, die überwiegend vermeidbar wären, wenn sich das kindschaftsrechtliche System vollständig an bestehenden Gesetzen orientieren würde.

 

71% der betroffenen Kinder haben Therapiebedarf oder sind bereits in Therapie

  • 42% der betroffenen Kinder bedürfen einer Therapie
  • 29% der betroffenen Kinder sind bereits in Therapie
  • Bei 29% der Kinder ist kein Therapiebedarf aktenkundig erwähnt

Die unter Punkt 4 aufgeführten Versäumnisse führen also nicht allein zu einer hohen Belastung der betroffenen Eltern. Vielmehr schadet diese Praxis erheblich den betroffenen Kindern.

      

Handlungsauftrag an Familiengerichte und Helfersystem:

Versäumnisse wie unter Punkt 4 aufgeführt, sind umgehend abzustellen.

 

Handlungsauftrag an die Politik:

Im Zuge der anstehenden Reform des Familienrechts (Betreuung und Sorge) müssen Gesetze entsprechend angepasst werden.