Dr. Stefan Rücker, Bremen
Diplom-Psychologe, Kinderpsychologe
Leiter der Arbeitsgruppe Kindeswohl an der Universität Bremen
Praxis für Paarberatung, Mediation, Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
Wissenschaftliche Durchführung bundesweiter Studien zu Kindeswohl und Umgangsrecht
Autor, Berater und Experte in TV und Medien
Fortbildungen und Initiativen in Politik und Justiz in Deutschland und Österreich zum Kinderschutz
In nahezu allen Sozialisationsräumen von Schutzbefohlenen bestehen gesetzliche Grundlagen zur Absicherung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung sowie auf die Beteiligung von Kindern. Partizipation und beteiligungsorientierte Konzepte ziehen sich beispielsweise von der Krippe bis in die schulische Ausbildung und folgen dabei in bester Absicht der ethischen Auffassung, dass man den Wert einer Gesellschaft daran erkennt, „wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt“ (Gustav Heinemann). Normativ und rechtlich findet der Anspruch dieser Gesellschaft auf einen behutsamen Umgang mit kindlichen Bedürfnissen seinen Niederschlag unter anderem in der UN-Kinderrechtekonvention sowie im Achten Buch Sozialgesetzbuch: „Kinder und Jugendliche haben das Recht, (entsprechend ihrem Entwicklungsstand) an allen sie betreffenden Entscheidungen beteiligt zu werden“ (vgl. Art. 12 UNKRK sowie § 8 SGB VIII). Deduktiv erleben Kinder dadurch eine Würdigung ihrer Wünsche und Bedürfnisse, und in der Folge eine Stärkung ihres Selbstwirksamkeitserlebens. Dies ist uneingeschränkt wünschenswert.
Denn: Die Theorie der Selbstwirksamkeit vermittelt, dass der Glaube an die eigene Fähigkeit, bestimmte Handlungen erfolgreich auszuführen, einen entscheidenden Einfluss auf das Verhalten und die Leistung von Kindern (und später Erwachsenen) hat. Selbstwirksamkeit bezieht sich auf das Vertrauen in eigene Fähigkeiten, Herausforderungen zu bewältigen, Ziele zu erreichen und mit Schwierigkeiten umzugehen. Selbstwirksamkeitserwartungen bilden folglich einen wichtigen motivierenden Faktor, der das Verhalten, die Anstrengung und die Ausdauer von Kindern beeinflusst. Menschen mit hohem Selbstwirksamkeitserleben sind eher bereit, sich Herausforderungen zu stellen, sich anzustrengen und Rückschläge zu überwinden, während Menschen mit niedriger Selbstwirksamkeit eher dazu neigen, aufzugeben oder sich weniger zu bemühen. Die Selbstwirksamkeit kann durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden, wie beispielsweise durch frühere Erfahrungen, Modelllernen, verbale Überzeugungen und körperliche Reaktionen. Indem man die Selbstwirksamkeit stärkt, kann man das Vertrauen und die Handlungskompetenz von Kindern deutlich steigern (vgl. Bandura, 1989).
Zusammengenommen lässt sich folgern, dass kindliche Bedürfnisse gehört und nach Möglichkeit berücksichtigt werden sollten, wenn man Kinder in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung fördern, und ihre Selbstwirksamkeit stärken will.
In konflikthaltigen Zusammenhängen jedoch, wie beispielsweise in familiengerichtlichen Verfahren, muss der Wert dieses in erzieherisch-pädagogischen Kontexten bewährten Ansatzes in seiner Bedeutung fachlich differenziert betrachtet werden. Geradewegs kontraindiziert erweist sich das Festhalten an die Theorie der Selbstwirksamkeit dort, wo sich problematische Trennungsverläufe mit Einbindung von Kindern ergeben. Beispielsweise aufgrund des allseitig bekannten Loyalitätskonflikts, durch Instrumentalisierung von Kindern oder gar durch offene Manipulation erklären Kinder nicht selten, einen bestimmten Elternteil kaum beziehungsweise gar nicht mehr sehen zu wollen (vgl. Rücker & Petermann, 2019). Aussagepsychologisch wird dabei häufig deutlich, dass solche Aussagen nicht den tatsächlichen Bedürfnislagen von Kindern entsprechen, sondern Ausdruck eines inner-psychischen Konflikts sind, den Kinder mit Blick auf Alter und Entwicklungsstand nicht selbstständig konstruktiv lösen können.
Exkurs: Im Bereich der Inobhutnahmen sehnen sich selbst Kinder mit massiven Misshandlungserfahrungen nach ihren Eltern und wollen zurück in ihre Familien. Dies ist einerseits tragisch, andererseits jedoch im Zusammenhang mit bindungstheoretischen Überlegungen erklärbar (siehe hierzu Rücker, 2023). Vor diesem Hintergrund überzeugen die von Kindern in familiengerichtlichen Verfahren vorgetragenen Ablehnungsgründe gegen einen Elternteil häufig nicht.
Mit Verweis auf den Wert der Selbstwirksamkeit für die Entwicklung von Kindern gilt der Kindeswille jedoch als beachtlich und folgenswert, selbst wenn dafür einer der wichtigsten Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern geopfert werden muss, nämlich die Bindung zwischen Kindern und Elternteilen. Hierbei ergeben sich allerdings zwei Logikbrüche:
Berechtigterweise übernehmen folglich in solchen Situationen Erwachsene die Deutungshoheit über zu berücksichtigende, und abzulehnende Motive von Kindern. Weshalb nun ausgerechnet in familiengerichtlichen Zusammenhängen einem selbstgefährdenden Kindeswillen, wie beispielsweise die nicht substantiierte Ablehnung eines Elternteils mit Verlust einer wertvollen Bindung gefolgt werden soll, erschließt sich fachlich nicht.
Es erscheint absurd, eine Güterabwägung zwischen
Aus diesem Grund ist dringend geboten, anachronistische Glaubenssätze in Kindschaftssachen aufzugeben und Kindeswille sowie Selbstwirksamkeit am Gefährdungspotenzial zu relativieren. Dies vor allem, um Kinder nicht unversehens mit Verweis auf ihre Selbstwirksamkeit in die für ihre gesamte Biografie missliche Lage zu versetzen, eine primäre Bindungs- und Bezugsperson, sprich einen Elternteil abzulehnen.
Dr. Stefan Rücker
Quellen
Bandura, A. (1989). Regulation of cognitive processes through perceived self-efficacy.
Developmental Psychology, 25(5), 729–735.
Baumann, M. (2023). Selbstversuch - leben und erziehen. Süddeutsche.
Friese-Berg, S. (2023). Gesundheit und Bindung im Fokus. Heb Wiss 4, 40–43.
Givertz, M., & Segrin, C. (2014). The Association Between Overinvolved Parenting andYoung Adults’ Self-Efficacy, Psychological Entitlement, and Family Communication.
Communication Research, 41(8), 1111–1136.
Rücker, S. (2023). Inobhutnahme – Kinderschutz als Kooperationsauftrag von Jugendämtern, Familiengerichten und Einrichtungen. Eine bundesweite Studie zur Erfassung der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität in den vorläufigen Schutzmaßnahmen. Unsere Jugend, 75, 157-162.
Rücker, S. & Petermann, F. (2019). Umgang und Kindeswohl. In R. Volbert/A. Huber/A. Jacob/A. Kannegießer (Hrsg.), Empirische Grundlagen der familienrechtlichen Begutachtung (S. 97-113). Göttingen: Hogrefe